Heute waren wir in der südlichen Bronx – in jener Gegend, in die vor 20 Jahren kein halbwegs vernünftiger Mensch einen Fuß gesetzt hat. Auch wir hatten die Bilder verwüsteter Häuser, vermüllter Straßen und gehäuften sozialen Elends vor Augen, als wir an die Bronx dachten. Zwar waren wir schon mehrmals in der Bronx, aber in den über jeden Zweifel erhabenen Teilen, im Bronx Zoo, im herrlichen botanischen Garten (den wir gleich zweimal besuchten), in Little Italy.
Heute waren wir also in der anderen Bronx. Eigentlich spechtelte ich (Anton) bereits seit Wochen über den Harlem River, der von unserer Wohnung aus gesehen, einige Straßen stadtauswärts Manhattan von der Bronx trennt. Wir hätten auch über eine der Brücken spazieren können, aber auf der anderen Seite sahen wir nur Industriebrachen – wenig einladend. Vor zwei Tagen las ich in der New York Times folgende kleine Ankündigung: „Morrisania: From Suburbia to the Grand Concourse (Sunday). This two-mile-walk in the Bronx, sponsored by the Municipal Art Society, will focus on the redevelopment of the neighborhoods of Mott Haven, Melrose and Morrisania. It begins at 10 a.m.“ Klang einladend, wir meldeten uns an und fuhren zum vereinbarten Treffpunkt, Ecke Freeman Street/Southern Boulevard. Einige Teilnehmer der Walk-Gruppe waren schon da. Durchwegs ältere Herrschaften, mehr Männer als Frauen. Ich hielt sie für alleinstehende Intellektuelle, Edith eher für lonely Pensionisten. Jedenfalls: Luis war eindeutig der jüngste, aber sogar Edith und ich bewegten uns deutlich unter dem Altersschnitt.
Jack, unser Walking-Tour-Guide, ein unscheinbarer Mittsechziger, hätte man den promovierten Urban Geographer nicht angesehen. Den geschichtlichen Abschnitt über die Bronx trug er unter der donnernden U-Bahn vor, sodass ich nicht ein Wort verstand, Edith auch nicht, und die anderen auch nicht. Sogar für Jack muss dieser Vortrag unter der U-Bahnbrücke sehr unangenehm gewesen sein, weil er nicht nur sein eigenes Wort nicht mehr verstand, sondern auch sein Hörgerät übersteuerte, wenn das Getöse der Subway anhob. Dass Morrisania, wie die südliche Bronx auch genannt wird, auf die mächtige Dynastie der Morris zurückgeht, die Ländereien in dieser Gegend besaßen, habe ich später im Internet nachgelesen.
Das Grüppchen der etwa 20 New Yorker New York-Touristen setzte sich plötzlich in Bewegung, nein in Laufschritt. Für zweieinhalb Stunden sollten wir nicht mehr richtig zum Stillstand kommen. Im schnellen Schritt, von dem bereits in der Webankündigung die Rede war, durchwanderten wir die Bronx. Jack voran, wir hinterher. Jack stoppt, dankenswerterweise meist in einem Fleckchen Schatten, wir stoppen, sammeln uns (einige eilen noch herbei), Jack trägt vor, dann geht es eilig weiter. Die angekündigten zwei Meilen wurden auf diese Weise zu gefühlten vier. Wir hätten es zwar kräftemäßig und konditionell locker mit Pensionistenschar aufnehmen können, hätten wir nicht einen Kinderwagen zu schieben gehabt (die Bronx ist recht hügelig) und darin Marlene, die just heute Durchfall hatte. Das hieß: In Windeseile mehrmals Popo putzen, derweil Ausschau halten, an welcher Ecke der Trupp verschwindet, Windel drauf, Wagen ins Rollen bringen und hinterher hirschen. Edith blieb dankenswerter Weise in solchen Situationen etwas zurück, um mir Zeichen zu geben: hier entlang, da entlang.
Die Wanderung war höchst interessant. Und die Erläuterungen von Jack waren es auch, auch wenn er kein großer Vortragender ist (Edith meinte, er sei zwanghaft). Wir durchquerten eine Gegend, die noch vor 20 Jahren verwüstet war. Genau so wie man sich die Bronx gemeinhin vorstellt. Ein schwarzes Ghetto, ausgebrannte Häuser, Elend, Misere, Drogen, Gewalt und vieles mehr. Wir waren überrascht, als wir nicht einmal mehr Überbleibsel aus dieser Zeit sahen. Die Bronx sieht inzwischen ganz anders aus. Immer noch ist sie ein Stadtteil der unteren sozialen Schichten, aber sie ist zunehmend ethnisch und sozial durchmischt, viele neue Bauten, relativ viel Grün. Wir durchquerten z.B. den Crotona Park, der ein wenig an den Central Park erinnert.
Der architektonische und soziale Rückgewinnungsprozess dauert nun schon 20, 25 Jahre. Jack schilderte die Situation in der Zwischenkriegszeit und noch unmittelbar nach dem Krieg. Damals war die Bronx eine ethnisch gut durchmischte Gegend, in der Unter- und Mittelschichten in Reihenhäusern wohnten. Aber es gab auch Einfamilienhäuser, die noch aus dem späten 19. Jahrhundert stammen und von denen heute noch einige erhalten sind. Viele Juden lebten hier, aber auch alle möglichen anderen Religionsgruppen. In den 50er und 60er Jahren zogen viele jener Leute, die den sozialen Aufstieg geschafft haben, weg: nach Queens, nach Long Island, nach Brooklyn. Tausende von Leuten verließen innerhalb weniger Jahre die Bronx und es zogen unterprivilegierte, deklassierte Gruppen nach: v.a. Schwarze und Hispanics.
Dieser Bevölkerungstausch erfolgte sehr rasch. Er wurde durch städtebauliche Eingriffe beschleunigt. Zwischen 1955 und 1963 wurde auf Initiative von Robert Moses (wir sind diesem manischen Visionär der Stadtentwicklung schon einmal begegnet, nämlich bei der Errichtung der kommunalen Wohnanlagen) eine mehrspurige Autobahn, der Cross Bronx Expressway, durch die südliche Bronx gebaut, die katastrophale Folgen für das Viertel hatte.
Ganze Straßenzüge wurden abgerissen, die Verbindung zwischen der südlichen und der nördlichen Bronx wurde gekappt. Die südliche Bronx wurde vom Rest der Bronx getrennt und wurde zum Sozialfall.
Allmählich wurden die Bauten vernachlässigt, die Stadt investierte nichts mehr, die öffentlichen Einrichtungen, Straßen, Wege, Parks verwahrlosten. Gewalt kam auf, die sich mit den politischen Aufständen mischte (Black Power-Bewegung). Das Ganze dauerte bis in die 80er Jahre. Dann begann der Wiederaufbau. Der Müll wurde weggebracht, Häuser wurden renoviert. Aber es gibt immer noch viel Brachland in der Bronx. Niedergebrannte Häuser, deren Grund bis heute unbebaut ist.
Jack zeigte uns einige Beispiel dieser Rückgewinnungsanstrengungen. Es gibt z. B. eine Gegend, in der mit städtischen Hilfe in den 80er Jahren kleine Einfamilienhäuser für etwa 300 Familien gebaut wurden, alle eingebettet in viel Grün. Das war die allererste Maßnahme, versprochen von Ronald Reagan, dem damaligen Präsidentschaftskandidaten, die aber einmalig bleiben sollte, da man feststellte, dass so eine Bauweise im städtischen Raum doch recht unökonomisch ist.
Ein idyllisches Suburbia, wie Jack etwas sarkastisch meinte, aber leider ohne jegliche Infrastruktur. Eine Autosiedlung, die wie am Reißbrett entworfen wurde. Dann gibt es neue Reihenhäuser, in die die untere Mittelklasse Einzug hielt. Die südliche Bronx ist nicht mehr ausschließlich schwarz geprägt, sondern auch andere Gruppen leben nun hier. Viele Hispanics, aber auch junge Familien, die sich Manhattan nicht leisten können.
Während wir hinter Jack herrannten, um wenigstens noch jeweils die zweite Hälfte seiner Ausführungen mitzubekommen, kamen nette Smalltalks mit den Mitlaufenden zustande. „Ganz nach Deinem Geschmack, alle über 60“, meinte Edith. Und in der Tat: Ich fühlte mich pudelwohl: plauderte mit einer betagten Bibliothekarin der Soros-Foundation und deren Freundin. Weiters mit einer älteren Dame aus New Jersey, mit einer erschreckend düsteren Stimme, die mir erklärte, wie Wien vor 40 Jahren aussah. Interessant. Aber auch Edith plauderte, vermittelt über Luis, der in alle Richtungen gestikulierte, mal mit dieser, mal mit jenem. Etwa mit Sylvia, einer Österreicherin, die seit 45 Jahren in NYC lebt.
Sylvia heftete sich auf unsere Fersen, und verließ uns auch nicht, als Jack geendet hatte und uns in der Mittagshitze vor einem U-Bahnschacht entließ. Sylvia begleitete uns, solange sie konnte, und redete. Am Heimweg in der U-Bahn (ein Stück des Weges fuhren wir gemeinsam) erklärte sie mir ohne Überdruss und in allen Details die Baseball-Regeln. Ich hatte den zappelnden Luis im Tragerl und war etwas abgelenkt. Die Regeln verstand ich nicht. Aber nun weiß ich zumindest, wer die Pappherren im Dunkin‘ Donut waren, über die ich mir neulich Gedanken gemacht habe. Tatsächlich Baseballspieler, nämlich von den New York Mets, der Mannschaft aus Queens (Sylvia lebt in Queens), die, auch das erzähle mir Sylvia, just heute gegen die andere große New Yorker Mannschaft antritt, nämlich die Yankees, die aus der Bronx kommen. Auf diese Weise haben wir bis zum bitteren Ende gelernt.
Ermattet von soviel Wissen und von der Hitze ließen wir uns auf dem Heimweg in der 116ten Straße (also ums Eck) in den leeren Gastgarten eines xbeliebigen Mexikaners fallen und aßen Speisen, die wir noch nie probiert hatten. Marlene bekam zum ersten Mal Coca Cola (gegen Durchfall) und war begeistert.